In den alten Sprachen hat die Entwicklung bisher nicht damit Schritt gehalten.
Geht es hingegen um Kenntnisse in Latein und Altgriechisch im Hochschulkontext, so stellt sich die Situation für Verantwortliche, für Lehrende und Lernende schwierig dar: Studien- und Prüfungsordnungen, die Sprachanforderungen in Altgriechisch oder Latein beschreiben, stützen sich mangels Alternativen auf die traditionellen Referenzgrößen Latinum (bzw. Kleines Latinum, Großes Latinum) sowie Graecum oder behelfen sich mit eigenen Formulierungen, für die keine festgelegten Standards existieren.
Beim Graecum und Latinum handelt es sich um Nachweise, die mit den tatsächlichen Bedürfnissen vieler Studiengänge wenig zu tun haben: In einer seit vielen Jahrzehnten nur geringfügig veränderten Gestalt werden sie auf der Grundlage von Richtlinien der Kultusministerkonferenz (KMK) in der Hoheit der jeweiligen Bundesländer vergeben.
Die KMK-Richtlinien zum Graecum und Latinum sind hinsichtlich der eigentlichen Niveaubeschreibung außerordentlich vage, was der Transparenz und Vergleichbarkeit der Zeugnisse abträglich ist. Gleichzeitig sind sie hinsichtlich des diagnostischen Verfahrens rigide, unflexibel und alles andere als zeitgemäß. Der zentrale und in der Regel einzige Aufgabentyp besteht in einer Übersetzung literarischer Texte ins Deutsche, die i.d.R. von hoher Komplexität sind. Als einziges Hilfsmittel können Prüfungsordnungen ein analoges zweisprachiges Wörterbuch zulassen.
Eine solche Aufgabe nach nur kurzer Lernzeit und entsprechend unzureichender Habitualisierung der sprachlichen Phänomene bewältigen zu müssen, geht in vielen Fällen mit Dysstress, Misserfolg und Ängsten einher. Aus demselben Grund kommt es zu didaktischen Verwerfungen wie teaching to the test und einer fast völligen Verengung der Kursinhalte auf die Grammatik. Innerhalb dieser Logik und Drucksituation beherrscht die Prüfungsvorbereitung sowohl die Unterrichtsmedien als auch die Arbeitsweise. Was in der Prüfung nicht nachgeschlagen werden darf – die Formen- und Satzlehre – ist zum Hauptgegenstand avanciert. Der Aufbau eines Elementarwortschatzes wird vernachlässigt oder unterbleibt ganz. Für die Wortbildungslehre, Sprachvergleiche und das Nachleben antiker Sprachen fehlt ebenfalls die Zeit. Im Ergebnis können die sektoriellen Grammatikkenntnisse weder kognitiv noch affektiv zu einem Sprachverständnis vernetzt werden.
Bei einer unvoreingenommenen Betrachtung muss besonders befremdlich wirken, dass die eigentliche Hauptsache beim Erlernen einer nicht mehr gesprochenen Sprache, nämlich die interkulturelle Begegnung mit dem Inhalt und der Form der Texte, in den universitären Sprachkursen kaum vermittelt und diskutiert werden kann. Die Förderung von Mehrsprachigkeit fehlt dann ebenso wie die Perspektive der fachwissenschaftlichen Anwendung, deretwegen der Spracherwerb stattfindet: Instrumente und wissenschaftliche Arbeitstechniken wie der Umgang mit entsprechenden Lexika, Grammatiken, Konkordanzen, Textausgaben, Übersetzungen, Kommentaren und digitalen Analysetools sind weder Gegenstände der Ausbildung noch der Prüfung.
Aus all diesen Gründen muss das universitäre „Latinum und Graecum im Hauruckverfahren“ als unflexibel und nicht bedarfsgerecht bezeichnet werden. Es wird daher seit langer Zeit kontrovers diskutiert und nicht selten scharf kritisiert.
Das Fehlen von Alternativen führte im Zusammenhang mit dem Bolognaprozess dazu, dass die Unzufriedenheit zu einer Reduzierung oder Streichung altsprachlicher Anforderungen in vielen Studiengängen führte. Oft wurde auch das Bedürfnis artikuliert, Nachweise unterhalb der Niveaustufen Latinum und Graecum sowie von vornherein stärker fachbezogene Angebote einrichten zu dürfen. Nicht zuletzt fehlte es seit langem an einer grundlegenden didaktischen Modernisierung der Ausbildung und Testung.